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Wirtschaft
 

„Agenda Klassenkampf - wie lange hält der soziale Friede?“

Interview mit Heiner Geißler

Hörprotokoll der Sendung vom 09. März 2005 bei HR2 – „Der Tag“. Aufgeschrieben von E. Hesse und R. Spitzer

Mentzer: Heiner Geißler, ehemaliger CDU Bundestagsabgeordneter, Schönen Guten Abend.

Geißler: „Guten Abend“

M: Herr Geißler, wie lange hält Ihrer Meinung nach der soziale Friede hierzulande noch?

G: „Ich glaube, schon noch eine kleine Weile, aber die Zunahme der Arbeitslosigkeit, verbunden mit der Zunahme der Armut, wie aus dem Armutsbericht der Bundesregierung hervorgeht, ist ein explosiver Sprengsatz, das heißt, aus der massiven sozialen Krise wird irgendwann einmal eine politische Krise und wird eine Zunahme der extremen Parteien bekommen.“

M: Wo bleibt Euer Aufschrei, das haben Sie im vergangenen November in der „Zeit“ gefragt. Ja wo bleibt denn der Aufschrei, warum hört man so wenig laute Stimmen?

G: “Weil die Leute resignieren, sie sehen sich einem Meinungskartell gegenüber, aber leider Gottes auch einer großen Koalition der beiden großen Parteien, die glauben, dass auf der Grundlage einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik Sozialabbau, Kürzung von Arbeitnehmerrechten die Voraussetzung böten, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Aber nun haben wir genau diese Politik seit über 20 Jahren und ich sage bewusst auch, in der Zeit, in der die CDU regiert hat, und sie hat eben nicht zu mehr Arbeitsplätzen geführt, oder zu einer Verringerung der Armut, sondern genau zum Gegenteil und deswegen muss man das Ruder herumreißen, herumwerfen. Wir brauchen statt einer prozyklischen Wirtschaftspolitik eine antizyklische. Das bedeutet, man darf den Leuten in der Zukunft nicht noch mehr Geld aus der Tasche nehmen, sondern man muss dafür sorgen, dass die Binnennachfrage wieder angekurbelt wird.“

M: Aber es ist ja offenbar nicht so, dass die Menschen einfach nicht bereit wären, selbst finanzielle Opfer zu bringen, siehe Praxisgebühr, das ist auch einigermaßen, nach ein bisschen Murren dann doch akzeptiert worden. Aber wenn dann gleichzeitig die Kassenvorstände einen ordentlichen Schluck aus der Gehaltspulle nehmen, wie ist denn so was den Menschen überhaupt noch zu vermitteln?

G: „Ja, ich weiß nicht, ob man die Leute hat darüber abstimmen lassen, ihnen bleibt ja gar nichts anderes übrig. Wenn sie behandelt werden wollen, dann müssen sie die Praxisgebühr bezahlen. Aber genau das ist ja das Beispiel für etwas viel tiefer Gehendes. Die Menschen müssen die Praxisgebühr bezahlen, höhere Zuzahlungen, weil man ihnen sagt, man will erreichen, dass dadurch die Kosten, also auch die Beiträge für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesenkt werden. Nun bringen sie diese Opfer und müssen nun feststellen, dass die Kassen April, April rufen und die Vorstandsbezüge erhöhen, aber gleichzeitig eben die Beiträge nicht senken, die Leute fühlen sich auf den Arm genommen, um nicht etwas schlimmeres zu sagen. Und dadurch entsteht eben vermehrt die Politikverdrossenheit, sie haben keine Perspektive mehr, sie haben keine Hoffnungen mehr, und vor allem, sie haben Abscheu und Wut gegenüber einer politischen, ökonomischen, aber auch publizistischen Elite, auch wissenschaftlichen Elite, oder wirtschaftswissenschaftlichen Elite, die sich offenbar als unfähig erweist, den unvermeidbaren Prozess der Globalisierung human zu gestalten. Das ist das eigentliche Problem und deswegen brauchen wir eine Politik, die den Menschen wieder eine Perspektive gibt, das heißt, ihnen vermittelt, dass das was in der Politik und in der Wirtschaft getan wird, auch einen Sinn macht, für sie selber.“

M: Das kann nicht so aussehen, dass die Leute merken, ja wir reduzieren unseren Lebensstandart, wir haben Lohneinbußen und stellen gleichzeitig fest, dass dadurch beileibe kein einziger neuer Arbeitsplatz geschaffen wird.

G: „Ja das hängt eben mit der falschen Wirtschaftspolitik zusammen und es hängt damit zusammen, dass die Politik sich auch als unfähig erweist, zum Beispiel die Arbeitsmarktprobleme, die jetzt durch den Beitritt der neuen Länder in der Europäischen Union aufgetreten sind, in den Griff zu bekommen, was aber durchaus möglich wäre. Man hätte eben vor dem Beitritt klar machen müssen, für die Polen, aber auch für die Baltischen Staaten, oder Tschechien, wenn sie mit milliardenschweren Subventionen cofinanziert werden in diesen Ländern, und zwar durch Steuermittel aus Deutschland, Frankreich, u.s.w., dass dann diese Länder auf ihre komparativen Lohnvorteile zumindest teilweise verzichten müssen und keine Sonderwirtschaftszonen einrichten dürfen, in denen praktisch die Unternehmen überhaupt keine Steuern bezahlen und so Arbeitsplätze aus Deutschland und Frankreich abgeworben werden. Das sind einfach massive politische Fehler, die vor den Beitrittsverhandlungen gemacht worden sind, und die jetzt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausbaden müssen.“

M: Also Sie würden sagen, dass die Politik mitnichten ohnmächtig zuschauen muss, wie die AG’s immer größere Renditen anhäufen. Es gibt durchaus Alternativen, die marktkonform sind, aus Ihrer Sicht?

G: „Die absolut marktkonform sind. Ich meine das System ist ja pervers. Es ist klar, dass wenn der Börsenwert eines Unternehmens ansteigt, je mehr Arbeitsplätze aufgegeben werden, dann kann man das ja nur pervers nennen. Aber das muss ja nicht so sein. Unser Aktienrecht zum Beispiel, priveligiert die Spekulanten. Das heißt, die Fondsmanager, die die Aktien von großen Unternehmen aufkaufen, wie z.B. Siemens, und dann darauf drängen, dass kurzfristige Kapitalrenditen entstehen, dass die erhöht werden, anstatt das Gewinne, die ja gemacht werden, investiert werden in Zukunftsinvestitionen. Natürlich müssen die Aktionäre einen angemessenen Anteil bekommen, ihr Kapital muss sich ja verzinsen. Aber ich muss die Überschüsse, die gemacht werden, die Gewinne, wie z.B. bei der Deutschen Bank, oder bei EON, Telekom, wo sie hingucken. Die muss ich natürlich für die Zukunft investieren, für die Forschung, für neue Maschinen, für neue Projekte, für Prozesstechnik, aber die Vorstände, deren Gehälter zum großen Teil mit dem Aktienkurs gekoppelt sind, die orientieren sich dann lieber an den Forderungen der Fondsmanager, als an den Interessen des eigenen Unternehmens. Und das muss nicht so sein, man könnte zum Beispiel denjenigen, die Aktien länger anlegen wollen, also langfristige Aktionäre, denen könnte man ein Mehrfachstimmrecht geben. Man könnte diese Koppelung der Gehälter an den Aktienkurs verbieten, im Aktienrecht und dann hätte man schon eine erhebliche Bremse gegen diese exzessive, gegen die Arbeitnehmer gerichtete Form des Sharholder Value.“

M: Vielen Dank, das war Heiner Geißler, ex Bundestagsabgeordneter der CDU.

Zur Person:

Dr. Heiner Geißler
Bundesminister a. D.

geb. am 3. März 1930, katholisch, verheiratet, 3 Kinder;

Studium der Philosophie, dann Studium der Rechtswissenschaften in München und Tübingen. Promotion 1960 an der Universität Tübingen, 1961 zweites juristisches Staatsexamen

Beginn der beruflichen Tätigkeit zunächst als Richter, dann als Leiter des Ministerbüros des Arbeits- und Sozialministers von Baden-Württemberg.

1965 wurde Heiner Geißler zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt.

Als Minister für Soziales, Jugend, Gesundheit und Sport des Landes Rheinland-Pfalz von 1967 – 1977: das erste Kindergartengesetz, die Sozialstationen, das erste Krankenhausreformgesetz und das erste Sportförderungsgesetz in der Bundesrepublik Deutschland.

Als Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit von 1982 – 1985: Neuordnung des Kriegsdienstverweigerungs- und Zivildienstgesetzes, Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub, Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rentenversicherung.

Als Generalsekretär der CDU von 1977 – 1989: drei für die CDU erfolgreiche Bundestagswahlen, der Regierungswechsel 1982, die Verabschiedung des Grundsatzprogramms der CDU, die neue Außenpolitik auf dem Jugendparteitag in Hamburg als Voraussetzung für die spätere Koalition mit der FDP und die neue Frauenpolitik der CDU (Bundesparteitag 1985 in Essen). Mit Heiner Geißler als Generalsekretär wurde die CDU zu einer Mitglieder- und Programmpartei und zu einer schlagkräftigen politischen Organisation. Von 1980 – 2002 gehörte er erneut dem Deutschen Bundestag an. Von 1989 – 2000 war er Mitglied des Bundesvorstandes der CDU, 1991 – 1998 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Heiner Geißler ist Bestseller-Autor. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen "Die Neue Soziale Frage" (1976), "Abschied von der Männergesellschaft" (1986), "Zugluft - Politik in stürmischer Zeit" (1990), "Heiner Geißler im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger" (1993), "Gefährlicher Sieg" (1995). "Der Irrweg des Nationalismus" (1995), "Bergsteigen" (1997), "Das nicht gehaltene Versprechen" (1997), "Zeit, das Visier zu öffnen" (1998), “Wo ist Gott? Gespräche mit der nächsten Generation” (2000), "Intoleranz . Vom Unglück unserer Zeit" (2002), "Was würde Jesus heute sagen? Die politische Botschaft des Evangeliums" (Spiegel-Bestseller September, Oktober, November 2003).

Heiner Geißler ist ein bekannter Gleitschirmflieger, Bergsteiger und Kletterer, seit 1992 Vorsitzender des Kuratoriums Sport und Natur, seit 2002 Vorsitzender der AktionCourage, seit 2003 Leiter des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing.

Quelle: www.heiner-geissler.de

 

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