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Strategiediskussion
 

Freiheit oder Geborgenheit?

von Marianne Bayer

Religion verschafft ihren Anhängern Vorteile, deshalb hat sie sich langfristig durchgesetzt ohne "wahr" zu sein. So lautet die These vom evolutionären Ursprung der Religion, etwa bei dem Biologen Lewis Wolpert.

Religion

- verleiht Vertrauen in die eigene Person und Gruppe

- mildert Todesangst

- verschafft erregende (spirituelle) Erlebnisse

- ermutigt zu gegenseitiger Hilfe in sozialen Netzwerken

- bremst Gesetzesübertreter.

Letzteres wird kontrovers diskutiert und sei deshalb hier zuerst abgehandelt. "Bild der Wissenschaft" 2/07 berichtet: Einerseits sind bei gläubigen Christen Drogenkonsum, Scheidung, Schwangerschaftabbruch und Selbsttötung selten und die Kinderzahl ist bei ihnen größer. Andererseits ist das Schummeln in Spiel, Schule und Beruf gleich häufig bei Gläubigen und Ungläubigen. Das Helfen als Ideal ist den Christen in Gedanken und Worten viel bekannter, aber das ändert den Alltag nicht. Die konkrete Hilfsbereitschaft Unbekannten gegenüber ist bei Christen nicht größer, das wurde durch Tests bewiesen.

Beim Vergleich, welche Tugenden die gläubigen Christen den anderen voraus haben und welche Tugenden nicht - da springt einem sofort ins Auge: Glauben ist heute BIOLOGISCH vorteilhaft.

Nur dann wenn Religion vom Überlebensvorteil zum Nachteil wird, kann sich demnach ein aufgeklärtes Weltbild durchsetzen. Deshalb war die europäische Aufklärung nur eine seltene Ausnahme.

Warum entstand das aufgeklärte Weltbild gerade in Europa?

Ein arabischer Philosoph des Mittelalters konnte ebenso wie ein indischer Mathematiker oder ein US-amerikanischer Biochemiker von heute hervorragende Technologien erfinden und trotzdem glauben, dass Gott die Welt geschaffen hat, ja sogar, dass ohne Gottes Willen "kein Sperling vom Dach, kein Haar vom Haupt" fällt. Niemand stellt Gott aus rein wissenschaftlicher Gründlichkeit in Frage. Religion stellt man nur dann in Frage, wenn sie als NACHTEIL erlebt wird - wenn die Denker unglücklich sind, nicht nur mit den irdischen Vertretern der Religion, sondern auch mit Gott selbst. Und das geschah mehrheitlich nur für eine kurze Epoche im christlichen Europa.

In anderen Kulturen gab es Leid genug, doch in anderen Kulturen waren "nur" die Töchter, die Bauern, die Sklaven und die Behinderten unglücklich. Einzig und allein in Europa waren viele gebildete junge Männer der höheren Schichten unglücklich genug, um nach radikaler Befreiung zu suchen. Und nur Männer, die privilegiert und trotzdem nicht wirklich glücklich sind, haben sowohl Neigung als auch Potenzial, den Grundstein zu radikal neuen Philosophien zu legen.

In Europa kam alles zusammen, was das Leid nachdenklicher junger Männer mehren konnte: Eine Religion, die nicht nur das Tun regelte, sondern auch die Gedanken ausspionierte. Eine Moral, die den Sex nicht bloß einzäunte, sondern grundsätzlich für schmutzig befand. Eine harte Wirtschaftsordnung - jedes Landstück war verbriefter Besitz und nur der älteste Sohn erbte. Der französische Soziologe Emmanuel Todd hat darauf aufmerksam gemacht, wie eine "harte" Erbfolge die Seelen verhärtet.

Die bürgerlichen jungen Männer in Europa mussten lange auf Heirat warten, mussten erst eigenes Einkommen haben statt wie anderswo mit ihrer Frau bei den Eltern zu leben. Und die kleinen Jungen, sonst weltweit unmäßig verhätschelt selbst von den ärmsten Müttern, sie hatten nur in Europa oft kühle, leistungsorientierte, die Brust verweigernde Mütter - besonders im Frankreich der großen Philosophen und Mathematiker! Die heimatlosen, ungeborgenen Männer Europas hatten nichts zu verlieren. Sie konnten nur gewinnen durch die Verkündung radikaler Freiheit.

Wir müssen aber beachten, dass die alten sichtbaren, fühlbaren Nachteile eines körperfeindlichen, weltfremden Christentums heute "so" nicht mehr existieren. In der weltweiten Missionierung gehen heute Softversionen von Religion um, wie in Südamerika und den USA üblich. Da wird den verheirateten Paaren ganz toller Sex versprochen, nur die Homosexuellen werden diskriminiert. Das ist kein gleichmäßig verteiltes Leid mehr, keine aufs Jenseits gerichtete Sklavenreligion mehr, sondern das ist lebensfrohe Mehrheitsreligion auf Kosten von Minderheiten. So halten es viele Christen heute und so haben es die Muslime wohl immer schon gehalten.

Für Ludwig Feuerbach war die Liebe Gottes nur ein (schlechter) Ersatz für die Liebe der Eltern, Freunde und Frauen, die wir alle suchen würden. Warum suchen Menschen die Liebe Gottes statt der Liebe von Mitmenschen (oder zusätzlich zur Liebe von Menschen)?

Ein Fallbeispiel aus der alten Bundesrepublik

Bert und Berta sind in nur oberflächlich religösen Elternhäusern aufgewachsen. In der Jugend sagen Bert und Berta der Religion Adieu, denn es gibt soviel anderes zu erleben. Sie lieben einander, sie bauen ein Haus, sie arbeiten viel und verdienen gut. Sie lieben ihren Sohn und später die Schwiegertochter, sie gönnen sich auch einen Flirt neben der Ehe. Sie entdecken aus eigener Kraft als 40jährige ihre Kreativität im Malen und Schreiben, was ja bei ihnen als Kleine-Leute-Kindern einst nicht gefördert worden war.

Aber... die Familie ist genetisch belastet und ungesund ernährt, immer wieder werden sie krank, auch wirtschaftlich gibt es Krisen. Und da kommt die katholische Religion zurück, stärker als je zuvor. Man betet, man wallfahrt, man trägt geweihte Gegenstände, man wird gesund, und sei es auch nur vorübergehend. Man hat ein gutes Gewissen, weil man sich losgesagt hat von Yoga und außerehelicher Liebe. Man findet ein Netzwerk von Glaubensgenossen, die einem auch beruflich-geschäftlich wieder auf die Beine helfen. Und man findet für sein laienhaftes Malen und Schreiben plötzlich Nachfrage und Anerkennung in der Kirche, weil man es in den Dienst einer größeren Sache gestellt hat.

Das Leben von Bert und Berta hat durch die katholische Kirche eine weltgeschichtliche Dimension gewonnen: Sie wollen dazu beitragen, dass Christus und seine Kirche siegen - über Moslems, Freimaurer, Kapitalisten und Sozialisten gleichermaßen. Bert und Berta haben eine Aufgabe.

Zu den Ungläubigen sagt Berta:

"Probier es doch mal - lies mal dies hier, bete, fahr mit zum Wallfahrtsort!

Du kannst nur gewinnen, nicht verlieren. Denn: Gibt es Gott NICHT, so hast du bei den Christen wenigstens ein gutes, gesundes Leben im Kreis netter Menschen gehabt. Gibt es Gott aber und du bist nicht zu ihm gekommen, dann wirst du nach dem Tod traurig sein, wenn du siehst, die anderen sind dort und bloß du nicht!"

Berta weiß nicht, dass sie in der Tradition eines großen Franzosen spricht: Blaise Pascal war ein genialer Naturwissenschaftler und Mathematiker – ein Glücksspieler, wie damals viele freie Geister. Nach seinem christlichen Bekehrungserlebnis aber argumentierte er punktgenau: Mit dem Glauben kannst du nur gewinnen, nicht verlieren, denn wenn.... dann..... siehe Berta.

Pascal baute auch eine der ersten Rechenmaschinen. Bertas Mann und Sohn sind Computerexperten - es hindert sie nicht am Glauben.

Der naturwissenschaftliche Beweis der Unmöglichkeit mancher Glaubensinhalte mag für den Freidenker ein Trost sein, weil ein solcher Beweis ihm Schutz vor der Macht der Kirchen verspricht. Der Freidenker muss aber bedenken:

Die Mehrheit ist gar nicht froh, sondern TRAURIG darüber, dass es keine Wunder gibt.

In Europa möchten zwar viele Menschen die Macht der großen Kirchen beschnitten sehen. Sie wissen auch durchaus um die dunkle Vergangenheit der Kirchen - aber dieselben Menschen sehnen sich nach einem persönlichen Ansprechpartner, sei er Gott, Schutzengel, innere Stimme, höheres Selbst oder wie immer genannt. Indem diese Menschen den großen Religionsgemeinschaften aus dem Weg gehen, aber zugleich ihre "frei flotierende" Religiosität pflegen, werden viele Menschen anfällig für Sektenprediger und Wundermedizinverkäufer, die mir viel ärgerlicher sind als meine gute alte evangelische Kirche.

Das erwünschte Kind

Nicht alle Menschen haben das Bedürfnis wie Bert und Berta, sich selbst eingebettet zu sehen in die große Weltgeschichte. Viele leben wirklich lieber nur für ihren persönlichen Kreis, für Partnerschaft und Familie. Trotzdem sind sie nicht gegen Religion gefeit. Vielleicht fehlt ihnen die Kraft, die Feuerbach in persönlichen Beziehungen sah und selbst lebte - kurzer Blick auf seine Biographie:

Er kümmerte sich von Kind an um seine Geschwister. Nach der Scheidung seiner Eltern lebte er mit den jüngeren Brüdern ohne Eltern. Später liebte er seine Frau und nahm ihre finanzielle Hilfe dankbar an, da er wegen seiner staatlich unerwünschten Lehren von ihrem Erbe abhängig war. Er verzichtete schweren Herzens auf eine zweite junge Dame, die ihn liebte (und die den Verzicht nicht wie er verkraftete). Er war Vater von Töchtern und trauerte sehr, als eine von ihnen starb.

Viele Menschen sind im Familienleben aber weniger tapfer als Feuerbach. Wenn sie sich bescheiden auf den persönlichen Kreis beschränken, dann mit der bitteren Folge, dass sie dort KEINE unheilbare Krankheit, KEINEN Unfalltod und keine Trennung ERTRAGEN können - dass sie in solchen Fällen immer gleich psychologische Betreuung brauchen, wie in den Zeitungsnachrichten zu lesen ist.

Zuerst und vor allem aber wollen viele Menschen von ihren eigenen Eltern, besonders von der Mutter, geliebt werden oder "geliebt worden sein" - ja, dieses eigenartige Konstrukt gibt es. Menschen verzweifeln bei dem Gedanken, "nicht gewollt" gewesen zu sein, vor allem wenn herauskommt, dass ihre Mutter damals vergeblich versucht hat, sie zu verhüten oder abzutreiben.

Ob es möglich ist, diese Überempfindlichkeiten durch geschichtliche Betrachtung abzuschütteln?

Wie stand es denn um das Gewolltsein der Kinder früher? Bis etwa 1920 kann man davon ausgehen, dass oft nur der älteste eheliche Sohn gewollt war und vielleicht die älteste Tochter. All die vielen anderen Kinder waren Reserve für den Fall, dass die ältesten starben oder moralische Versager wurden. Und viele Kinder waren ein ungeplantes Unglück für ihre Eltern. Wie lebten all diese Menschen mit der Unwichtigkeit oder gar Unerwünschtheit ihres Hier seins - oder vielmehr, wie hätten sie dieses brutale Sein ertragen sollen ohne Religion?

Ich lasse zwei Menschen von heute sprechen.

Frau A: Ich war ein ungeplantes und ungeliebtes Kind. Meine Erinnerung an die ersten Lebensjahre sind vage, aber das wenige, was ich erinnere, erfüllt mich mit TRAUER und WUT. Oh diese Gleichgültigkeit und Unaufmerksamkeit der Erwachsenen einem hilfsbedürftigen Wesen gegenüber! Mein Lebensinhalt ist es geworden, die bessere Betreuung von Kindern, pflegebedürftigen Senioren, Tieren und allem was hilflos ist einzufordern. Aus irgendwelchen Rosinen in den Köpfen anderer Leute, besonders der Männer, mache ich mir gar nichts.

Herr B: Schön, ICH war, was man ein Wunschkind nennt. Aber was habe ich davon? Meine Eltern hatten sich "ein Baby" gewünscht oder "einen Sohn" - aber doch bestimmt nicht mich PERSÖNLICH! Sie hatten sich ein hübsches Kind gewünscht, das lange ihr hilfloses Kind bleibt. Ich war hässlich, und ich wurde schnell erwachsen. Sie hatten sich ein Kind gewünscht, das später Erfolg in der Gesellschaft hat, stellvertretend für die Eltern. Dieser Erfolg bedeutet mir nichts. Die Dinge, für die ich mich wirklich einsetze, die bedeuten meinen Eltern doch gar nichts. Also bin ich lieber mein eigener Herr, verzichte auf Fürsorge anderer Menschen. Das was einem selber Spaß macht, das interessiert (wenn überhaupt jemanden) doch nur die Freunde, die man sich selbst wählt aufgrund gemeinsamer Interessen.

Ich glaube, dass nur Menschen wie Herr B wirklich die Souveränität haben, ohne Religion glücklich zu leben.

Entscheidungsfreiheit, Vorherbestimmung, Zufall und Wahrscheinlichkeit

Religion, Softversion 2000, geht so: Der Kosmos ist - wie auch immer, gesetzmäßig, aber mit einem kleinen Anschub von einem geistigen Wesen - gemacht worden, damit in ihm BEWUSSTE Wesen (also Menschen, soweit wir wissen) leben können, die WÄHLEN können - die sich entscheiden können – für das Gute, das heißt für Gott. Der Mensch ist frei, auch das Böse zu wählen, bzw. Gott fernzubleiben.

Herr B: Ja, und dann ist Gott - oder Jesus - oder der Schutzengel TRAURIG. Diese Art Erpressung kenne ich, meine Mutter ist genauso!

Religion lässt dem Menschen sehr viel Freiheit. Da der Mensch gleich nach Gott die zweite Hauptrolle im Kosmos spielt, kann er in seinem Alltag JEDE Wahl selbst treffen, nur möglichst halt nicht das Böse....

Herr B: Ach nein, wie großzügig!

Ironie ist hier leider fehl am Platz, denn diese menschliche Entscheidungsfreiheit ist nicht selbstverständlich. Gesetzt den Fall, Gott existiert nicht (oder mischt sich nicht in unser Leben). Können wir dann MACHEN, WAS WIR WOLLEN? Viele Wissenschaftler sind anderer Meinung.

Wenn jedes Ereignis eine URSACHE (oder mehrere) hat, wie uns die Physik sagt seit Newton, Galilei usw. - bestimmen die Ursachen denn dann die Wirkungen voraus, auch in unserem Leben? Laplace glaubte: "Eines Tages, wenn irgend jemand nur gut genug rechnen kann, dann kann er JEDES Ereignis vorausberechnen." Ist jeder unserer Schritte vorprogrammiert durch die Vorgeschichte - durch Gene plus Umwelt?

Durch das wissenschaftlichen Weltbild wurde unsere Freiheit zu (scheinbar?) willkürlicher Entscheidung also nicht erweitert, sondern zunächst einmal eingeschränkt.

Herr B: Ja, seltsam - auch ich habe das Gefühl, dass die Würfel längst gefallen sind - dass wir das Ergebnis nur nicht wissen. Also wenn ich zum Beispiel morgen sterben müsste - ich würde mich ganz friedlich in mein Schicksal fügen. Ich kann es nur nicht leiden, wenn ein Wesen, also eine fremde ABSICHT, ein fremder Wille über mich verfügt." Mit seiner Schicksalsergebenheit ist Herr B in Europa allerdings eine Ausnahme.

Frau A: Nein, ich könnte es nicht ertragen, so mechanisch, so unpersönlich zu fallen wie ein Würfel. Ich würde immer und immer fragen WARUM ICH? Es muss JEMANDEN geben, den ich dafür anklagen - oder um Gnade bitten kann.

Diese Frage WARUM GERADE ICH ist nach Lewis Wolpert ein Hauptgrund für das hartnäckige Überleben der Religion. Gewachsen sind Religion und Wissenschaft aus derselben Wurzel - aus der Neugier. Der Mensch fragt: "Was ist die URSACHE (des Regens - des Unglücks - des Lebens - des Kosmos)?" "Was wird also passieren (die FOLGE sein), wenn ich X,Y,Z mache?"

Diese Neugier des Menschen war nützlich für das Überleben. Sie half ihm, Strategien zu finden. Und wenn der Mensch dabei falsche Antworten fand (zum Beispiel eine Naturkatastrophe für eine Strafe Gottes hielt), so waren die falschen Antworten für das Überleben immer noch besser als gar keine Antworten - solange die falschen Antworten den Menschen trösteten und beruhigten. Nur die christlichen Kirchen schossen mit der Höllen-Drohung einige Jahrhunderte lang über das Ziel hinaus und verloren dadurch vorübergehend an Boden.

Die Fragen nach Ursachen und Wirkungen kann die Wissenschaft heute besser beantworten als die Religion. Nur die eine Frage kann Wissenschaft niemals beantwort - die Frage der von Ängsten geplagten Frau A "Warum trifft es unter allen Menschen gerade MICH?"

Wissenschaft kann die WAHRSCHEINLICHKEIT berechnen, aber nicht das Ereignis. Sie kann bis aufs Komma genau sagen, wie viele von hundert Menschen meiner Klasse/Nation/Lebensweise ein Alter von 60, 70 oder 80 Jahren erreichen. Aber nicht, ob ICH dabei bin.

Der Mensch hat eine heftige Abneigung gegen den ZUFALL. Der Mensch möchte planen können und der Zufall macht alles unplanbar. Herr B würde zwar einwenden, dass der Zufall ihm auch Chancen bietet und jedenfalls das kleinere Übel ist im Vergleich zum Verplantwerden durch einen fremden Willen. Aber das ist eine Minderheiten-Position. Die meisten möchten ein erwünschtes Kind sein. Erwünscht sein kann der Mensch sowohl privat als auch kosmologisch.

Ein Mann bleibt auf dem Weg zum Flughafen im Stau stecken, das Flugzeug fliegt ohne ihn und stürzt ab. Der Mann denkt: "Gott hat noch was vor mit mir". Ist dieser Gedanke nicht empörend gegenüber all den anderen, die abgestürzt und tot sind? Oder jener Mann, der wegen des Staus ein späteres Flugzeug nahm und dann stürzt das ab? So fragt Martin Urban, Plasmaphysiker, in seinem Buch "Warum der Mensch glaubt".

Das Problem ist nicht "Wer hat den Urknall gemacht, wenn es keinen Gott gibt? "Diese Frage ließe sich ganz leicht abschmettern mit der Frage: "Und wenn Gott den Urknall gemacht hat - wer hat dann GOTT gemacht?" Nein, das Problem ist, dass fast jeder Mensch ein erwünschtes Kind sein will.

"99 % der biologischen Evolution ist erklärbar, aber das eine Prozent, das nicht erklärbar ist, das ist doch hoch interessant," sagt der Molekularbiologe Cees Dekker. Sogar Physiker und Astronomen verfallen der Sehnsucht, erwünscht zu sein. Wissenschaftler wissen ja anders als der Normalbürger, dass unsere Welt nicht selbstverständlich ist. Um Haaresbreite wäre nach dem Urknall statt des Kosmos das NICHTS geworden, um Haaresbreite wäre alles gleich wieder auseinandergeflogen, um Haaresbreite hätte unser Planet den falschen Abstand von der Sonne gehabt, hätte es kein Wasser gegeben, keinen Sauerstoff usw.

In Wirklichkeit ist es einfache Statistik - neben Milliarden möglicher Nichtwelten entstand mindestens eine mögliche Welt - wenn nicht, hätten wir hier und heute das Problem nicht, aber das würden wir ja nicht merken...... Die Wissenschaftler, die an dem Gedanken hängen, hinter der Welt müsste doch eine Absicht gestanden haben, sollten die Geschichte von Fritz lesen. In Katja Lange-Müllers Roman "Die letzten Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei" trägt ein Druckereiarbeiter namens Fritz ahnungslos den missgebildeten, abgestorbenen Fetus seines eineiigen Zwillingsbruders als eine Geschwulst im Leib. Das Geschwulst beginnt zu drücken, es wird auf diese Weise entdeckt und operativ entfernt, in einem Glas konserviert und von Fritz "Otto" getauft. Daraufhin wird Fritz impotent und depressiv und sein Trinken nimmt überhand, weil ....

"Weil es genauso gut auch andersherum hätte kommen können. Dann stünde jetzt ICH als Feuchtpräparat bei Otto in der Wohnstube", sagt Fritz.

Freiheit ist nicht gleich Ekstase

Wir erleben, dass eine Mehrheit der Menschen wie Frau A nach Sicherheit strebt und eine Minderheit wie Herr B nach Freiheit. Doch dürfen die Freidenker keinesfalls gewiss sein, dass die Freiheitsliebenden nun zu ihnen kommen.

Das Leben von Herrn B mag zwar frei sein von Menschen und Göttern, die ihm Vorschriften machen, doch sein Leben ist ziemlich trivial. Er geht zur Arbeit, isst, schläft... Nicht alle sind damit zufrieden. "Es muss doch etwas geben!" Vor allem Jugendliche sagen so - und die Menschen in den jungen Nationen Afrikas und Lateinamerikas. Sie suchen starke Gefühle, das Erlebnis der Grenzenlosigkeit, das "Außersichsein" , die Ekstase. Das verschafft Massengottesdiensten von Pfingstgemeinden Zulauf, wo man sich in Ekstase betet, singt, tanzt.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Brot UND Rosen.

Neurologen haben herausgefunden, was bei Menschen passiert, die beim Meditieren das Gefühl haben, "grenzenlos" zu sein, nicht mehr gefangen in ihrem kleinen Körper. Während man das fühlt, ist eine bestimmte Stelle im Gehirn weniger durchblutet als sonst. Diese Stelle heißt das Orientierungs-Assoziations-Areal, das einem im Alltag die wichtige Information gibt, wo meine Körperteile aufhören und die Umwelt anfängt. Hirnvorgänge als Ursachen religiöser Zustände, es gibt viele Beispiele dafür, doch ich begnüge mich mit dem einen. Denn solche Entdeckungen eignen sich überhaupt nicht, um zu einem religiösen Menschen "Siehste" zu sagen. Ein gebildeter Religiöser findet es doch viel schöner, wenn Gott die Biochemie des Gehirns für sich arbeiten lässt, statt persönlich da drin herumzuschrauben. Ich leite eine andere Forderung aus den neurologischen Entdeckungen ab: Brot und Rosen. Wir sollten das Geheimnisvolle nicht ablehnen, sondern Entspannungsübungen und Meditationen bejahen, die man als Individuum von Fachleuten lernen kann - ohne Manipulation durch Prediger oder durch Menschenmassen.

Fazit

Warum glauben viele Menschen, dass das Leben ohne Gott seinen Sinn verliert - und kann man das widerlegen? Hier halfen mir einige Autoren aus dem empfehlenswerten Sammelband "Der Sinn des Lebens" weiter, unter anderem Julian Huxley, Bertrand Russell, Thomas Nagel und Kurt Baier. Sie sagen mehr oder weniger, dass ein Lebenssinn in dem Sinne, dass eine höhere Instanz die Entstehung von Menschen und speziell meine Entstehung gewollt hat, für mich doch nicht tröstlich oder erhebend, sondern kränkend sei. Möchte der Mensch nicht um seiner selbst willen da sein - unverplant?

Die Frage nach einem Lebenssinn als solchem muss aber erlaubt sein. Der Psychologe Viktor E. Frankl berichtet im gleichen Buch, dass bei einer Umfrage nur 9 % der Menschen meinten, der Mensch könnte auch leben, ohne "für etwas" zu leben. Psychisch Gesunde und Kranke fordern ohne Unterschied einen Sinn. Er schlägt ihnen vor 1) den Sinn in Arbeit, Liebe, Natur und Kultur zu suchen 2) anstelle der Empörung über Sterblichkeit und Tod die Erinnerungen als Früchte der Vergangenheit aufzubewahren und 3) in Würde zu leiden, wo Leid sich nicht vermeiden lässt.

Martin Urban preist das STAUNEN des Menschen über die Natur, die Evolution und das Universum als beste Medizin gegen Dogmen. Das Staunen über die Welt fordert von uns keine Selbstaufopferung wie manche religiöse Fanatiker, aber das Staunen erfordert ein klein wenig Selbstlosigkeit - nur soviel, dass wir uns über Dinge freuen können, die uns keinen Überlebensvorteil bringen außer der persönlichen Freude an dem, was wir erleben.

Leute, die immer fragen "Warum ich?"- Leute, die Sicherheit und Geborgenheit suchen um jeden Preis, sie sind die natürliche Beute der Religion. Nur selten - wenn ein solcher Mensch zufällig gerade bei religionslosen Mitmenschen die ganz große Hilfe, die persönliche Zuwendung findet - wird er umdenken.

Religionslos existieren können ist eher etwas für Menschen von natürlicher Selbstlosigkeit.

Leute, die die eigene Generation lieben (nicht von den Eltern abhängig sind). Leute, die sexuell genießen können (Bertrand Russell vergleicht das mit der mystischen Erfahrung). Leute, die die Kunst und die Natur lieben und Leute, die die Freiheit lieben. Auf letztere wollte ich besonders aufmerksam machen. Weil wir oben sahen, dass eben nicht automatisch Religion gleich Unfreiheit und Naturwissenschaft gleich Freiheit ist. Man muss sich schon ein wenig mehr bemühen um die Freiheitsliebenden.

 

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