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Bildung
 

Kritische Wissenschaft: Was sich dahinter verbirgt und warum sie notwendig ist

Sind die Wissenschaften nicht dazu da, zu erforschen, wie man die Gesellschaft menschlicher macht? Wo aber sind die ProfessorInnen und Studierenden, die sich fragen und hinterfragen, wie arbeitslosen Menschen wieder ein menschenwürdigeres Leben als jenes mit ALG II zu ermöglichen ist - und deren Antworten zudem in der Praxis auch nachweisbar wirksam sind? Wie wäre es einmal mit einer anderen Wissenschaft - einer "kritischen", die plötzlich zu ganz anderen Antworten führt?

Eine Einführung in die Kritische Theorie von Jens Wernicke

Problemskizze

Würde jemand aus meiner Familie, alle Arbeiter oder kleinere Angestellte, danach gefragt werden, was ihm oder ihr beim Wort "Universität" als erstes in den Sinn käme, antwortete die entsprechende Person mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit: Euch geht es da doch allen viel zu gut!

Ihre Vorstellung der Hochschule beinhaltet zu allererst: Kaum arbeitende Studierende und Profs, von denen erstere von viel zu viel staatlicher oder elterlicher Unterstützung und letztere von allzu fürstlichen Gehältern leben, sowie nach dem Studium dann eine Art Arbeitsplatz- und Wohlstandsgarantie.

Und auch wenn jedeR Studierende, zumal wenn er oder sie BAföG-EmpfängerIn war oder ist, bestätigen wird, dass der Wahrheitsgehalt dieses "Bildes" (1) gen Null tendiert, hätte meine Familie doch ein Recht auf Kritik, denn: Längst besteht für Außenstehende kaum mehr ein wahrnehmbarer Zusammenhang zwischen ihnen und den Hochschulen, zwischen Hochschulen und der Gesellschaft an sich. Ja, "[n]iemals in der Geschichte war das Wissen, was eine Universität ist, so marginal wie heute" (Wolfgang Eßbach), sodass deren gesellschaftliche Relevanz immer mehr in in Frage gestellt wird.

Und ganz unschuldig sind die Hochschulen daran nicht: Gemessen an ihrem Ziel, mittels Forschens und Theoriebildens den Menschen zu dienen, ja, die Gesellschaft menschlicher gestalten zu helfen, ist ihnen unlängst - in Zeiten wachsender sozialer Spannungen, steigender Massenarbeitslosigkeit, immer weiter fortschreitender Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, zunehmenden Rassismusses etc. - ein fast völliges Versagen zu attestieren.

Und wo bleiben auch die versprochenen, tatsächlich wirksamen und die gesellschaftlichen Probleme lösenden Theorien? Wo bleiben die Studierenden und anderen Hochschulmitglieder, die bei ihren wiederkehrenden Protesten Transparente mit der Aufschrift "Weg mit Sozialabbau à la Hartz I bis IV – wir wissen, dass und wie es anders geht" tragen, um unter Beweis zu stellen, dass Studiengebühren keine gute Idee sind? Wo sind die jungen Lernenden, die sich überhaupt noch als Teile der Gesellschaft, die außerhalb ihrer Hochschulen existiert, begreifen; die realisieren, dass die zunehmende Privatisierung staatlicher Daseinsfürsorge in fast allen Bereichen (2) in der überwiegenden Mehrheit auch sie direkt nach dem Studienende schmerzen und benachteiligen wird? Wo bleibt das Bewusstsein, "parteilich", parteilich für die Menschen tätig zu sein?

Traditionelle Wissenschaft

Das gibt es in der "traditionellen Wissenschaft" (vgl. Max Horkheimer) nicht. Vielmehr meint diese, der Gesellschaft als Ganzem zu dienen, zwischen bzw. über Einzelinteressen stehend unparteiisch, objektiv und wertfrei zu sein, womit dem und der Einzelnen, so die These, schließlich stets am besten gedient sei (vgl. Theodor W. Adorno).

Sie dient, so ihre Crux, dem bestehenden gesellschaftlichen "System" als Ganzem - sieht also, sozusagen, bspw. die Interessen der Deutsche Bank AG und jene einer allein erziehenden ALG II-Empfängerin "wertneutral" als nebeneinander gleichberechtigt an bzw. blendet sie entsprechend als nicht redundant aus - und hat die Regeln des Systems oftmals als stillschweigend vorausgesetzte Grundannahmen (3) internalisiert, womit ein Hinterfragen eben dieser unmöglich gemacht ist.

Kurzum: Der momentane neoliberale Umbau des Staates hätte "viel weniger Chancen, wenn die Angehörigen der Universität nicht eine besondere Disposition zum Selbstbetrug hätten" (Wolfgang Eßbach). Dass sie eine solche besitzen, "liegt in der Struktur ihrer Tätigkeit, die geistige Arbeit ist und ohne ein idealistisches Element gar nicht funktioniert" (ebd.), an sich. "Beispiele [hierfür] […] liegen auf der Hand. So müssen sich z. B. Professoren, die die Idee der Wertfreiheit der Wissenschaft verteidigen, selbst betrügen. Sie müssen sich selbst heftig einreden, dass sie nur neutrale Tätigkeiten verrichten, die als solche weder regierungs- noch oppositionsfreundlich oder -feindlich eingestellt, d. h. eben politisch sind" (ebd.).

Kritische Wissenschaft

Anders die kritische Wissenschaft, Kritische Theorie. Ihr geht es "auch und vor allem um das weniger offenkundige, den gesellschaftlichen Machtverhältnissen selber innewohnende, sie verschleiernde und bekräftigende Bewusstsein, das "der Natur", "dem Wesen des Menschen" oder "der Sache selbst" zuschreibt, was doch geschichtlich durch gesellschaftliche Tätigkeit hervorgebracht [und somit änderbar] ist; um Ideologiekritik also. Dass darüber hinaus die Wichtigkeit theoretischer und praktischer Realitätskritik als Aufgabe von Wissenschaft zu betonen ist, liegt daran, dass innerwissenschaftliche Kritik immer Gefahr läuft, die Welt der Konzepte und Kategorien zu verselbständigen und sich in dieser zu verirren, um dann um so rechthaberischer als - wie Karl Marx einmal schrieb - "von aller Masse und Materie ungetrübte […] ‘reine‘ Kritik" aufzutreten" (Karl Hermann Tjaden), die ihren Lebens- und Realitätsbezug längst jedoch verloren hat.

Auch wenn also jede Wissenschaft, jede wissenschaftliche Theorie, für sich in Anspruch nimmt, "kritisch" zu sein, indem sie sich mit anderen Ansätzen, Ergebnissen und Methoden innerwissenschaftlich auseinandersetzt und vergleicht, besteht der Unterschied zwischen dieser und der Kritischen Wissenschaft doch und vor allem darin, dass letztere emanzipatorisch bedeutsam nach Herrschaft, gesellschaftlichen Interessen und praktischem Eingreifen fragt sowie nach Theorien und Methoden sucht, mit denen eben diese Fragen gestellt und beantwortet werden können.

Sie "ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen, dabei vor allem auch gegen den Strom der eigenen Vorurteile und [...] gegen die eigene Tendenz zum Sich-Korrumpieren-Lassen und Klein-Beigeben gegenüber den herrschenden Kräften, denen die Erkenntnisse gegen den Strich gehen, die ihren Herrschaftsanspruch gefährden könnte[n]. Demnach ist Wissenschaft quasi als solche Kritik und Selbstkritik: Aber nicht die konkurrenzbestimmte profilisierungssüchtige Kritik vieler bürgerlicher Intellektueller, sondern eine Kritik zur Durchsetzung des menschlichen Erkenntnisfortschritts im Interesse aller Menschen gegen die bornierten Interessen der Herrschenden an der Fortdauer menschlicher Fremdbestimmung und Unmündigkeit" (Klaus Holzkamp).

Die drei Hauptbeobachtungsfelder der Kritischen Theorie sind die Ökonomie, die Entwicklung des Individuums und die Kultur. In einer Kombination marxistischer und psychoanalytischer Perspektiven wird insbesondere die "Gesellschaft" kritisch betrachtet. Sie wird nicht nur als eine Gesamtheit von Menschen in einer bestimmten Zeit aufgefasst, sondern vielmehr als "Verhältnisse", die dem und der Einzelnen übermächtig gegenüberstehen und Charakter und Handlungsmöglichkeiten dieser in immer stärkerem Maße formen und somit ihre Möglichkeiten, Einfluß auf die Gesellschaft zu nehmen, zunehmend reduzieren. Eine besondere Mittlerrolle kommt dabei der familiären Sozialisation, den Massenmedien sowie der Massenkultur zu.

Angenommen wird, dass in der kapitalistischen Gesellschaft durch zunehmende Technisierung, wissenschaftlichen Fortschritt und die hieraus resultierender Bürokratie eine Entfremdung eintritt, durch welche die Bedeutung des Individuums verloren geht. Die aufklärerische Vernunft habe das Erlangen von wahren Erkenntnissen über die Welt zwar als das Wesen des Menschen angesehen, habe sich unlängst jedoch zu einer instrumentellen und zweckbestimmten gewandelt. Diese betrachte die Welt und auch die Menschen einzig unter dem Aspekt des Nutzens. Die Beziehungen zwischen den Individuen würden unter Auflösung tradierter Bindungen weitgehend versachlicht und objektiviert und reduzierten sich zunehmend auf bloße Tauschverhältnisse.

Hinauslaufen würde dies auf eine "total verwaltete Welt", die gegenüber dem Einzelnen umfassende soziale Kontrolle ausübe und Idealismus, Nonkonformismus, Unkonventionalität oder Kreativität als ihres Charakters nach entgegenlaufend konsequent unterdrücke. Die Kritische Theorie fordert, dass die Philosophie in der Gesellschaft eine praktische und zentrale Bedeutung haben müsse; mit dem Ausblick auf bessere Verhältnisse in einer zukünftigen Gesellschaft.

Ein Beispiel: Kritische Psychologie

Wer nun beispielsweise behauptet, die Wissenschaft der Psychologie als solche sei per se wertneutral und unpolitisch, in ihrem traditionellen Erscheinungsbild also bereits Kritik und Selbstkritik, der oder die vergisst zumindest zweierlei: Zum einen, dass die Entstehung der Sozialpsychologie vor in etwa 100 Jahren nachweislich als konservative Antwort auf den Sozialismus anzusehen und daher keineswegs als neutral zu bezeichnen ist. Zum anderen, dass es kaum mehr eine gesellschaftliche Schweinerei auf Erden gibt, an welcher Psychologinnen und Psychologen nicht beteiligt waren und sind:

Sie "betreuen bombenwerfende Killer in Angriffskriegen, sie versuchen ihnen anvertraute Minderjährige mit Erziehungsstrategien zu übertölpeln, sie waren an der Optimierung von Folter ebenso beteiligt wie daran, ökonomisch-soziale Probleme zu personal-psychologischen umzuformulieren: so wird aus zwei Zimmern für eine fünfköpfige Familie deren mangelnde Frustrationstoleranz oder aus der Kombination von Armut und Karstadt-Werbung "aufgepasst - zugefasst" der psychologisch zu behandelnde minderjährige Ladendieb" (Morus Markard, S. 19 f.).

So fragen denn auch traditionelle Psychologen, wenn sie beispielsweise versuchen, gegen rassistische Entwicklungen zu arbeiten und herauszufinden, warum niemand dem Menschen mit anderer Hautfarbe, der in der U-Bahn angepöbelt wird, hilft, Fragen wie jene, wie Rassisten sind und wie mensch zum Rassisten werden kann, Fragen also, deren Antworten die Gesellschaft als Ganzes per se als gegeben und unabänderbar unterstellen, und bedienen sich hierzu des psychologischen Konzeptes des Vorurteils, in welchem eine recht ausgeprägte Art persönlicher Zuschreibung mitschwingt.

Die Kritische Psychologie hingegen fragt - nicht zuletzt im Wissen um die herrschende Ausländerpolitik und -gesetzgebung - hingegen anders herum: "Wie sollen Menschen nicht ausländerfeindlich, nicht rassistisch werden, wenn sie doch den Ausschluss, die Ausgrenzung von "Ausländerinnen" und "Ausländern" jeden Tag als "Recht und Gesetz", als gesellschaftlich legitimiert vorgeführt sehen? Warum sollten Menschen, aus welchen sozialen Gruppen auch immer, nicht auf die Idee kommen, dass sie Entsprechendes auch in ihrem Alltagsdenken und -handeln vollziehen dürfen? Warum sollte die Vorstellung, dass eine Verschlechterung der Lebensbedingungen von Ausländerinnen und Ausländern eine Verbesserung der Lage Einheimischer brächte, nicht ins alltägliche Denk- und Handlungsrepertoire Einheimischer eingehen? Wenn man so fragt, sieht man Rassismus nicht [mehr] in erster Linie als ein persönliches Vorurteil, sondern als nahegelegte Reproduktion alltäglicher Lebensweise, eines institutionellen Rassismus" (ebd., S. 20) also.

"Ebenso schlägt [sich] in den Begriffen Leistung und Leistungsstreben selber, mit denen im Übrigen nicht nach der gesellschaftlichen Nützlichkeit der zu erbringenden Leistungen gefragt wird, eine gesellschaftliche Ordnung [nieder], in deren Dienste nolens volens [unfreiwillig] steht, der oder die diese Begriffe nicht hinterfragt" (ebd., S. 20).

Es kann also - zieht man den stets vorhandenen Einfluss der Gesellschaft auf sowohl das zu untersuchende als auch und vor allem das forschende Subjekt in die Betrachtungen mit ein - einigermaßen zwanglos geschlussfolgert werden, dass die Vorstellung der traditionellen Psychologinnen und die Psychologen, es seien sie allein, die über den Charakter ihrer Wissenschaft entschieden sowie über deren "Wertneutralität" wachten, als naiv bis abwegig einzustufen ist, sieht diese Auffassung doch davon ab, dass sich gesellschaftliche Widersprüche, Interessen und Herrschaftsverhältnisse mitten in wissenschaftlichen Konzepten wiederfinden.

Daher bleibt das Wort von der "Gesellschaft", welcher die Wissenschaft dient, so lange ein blutleeres und abstraktes Konzept, wie von gesellschaftlichen Interessenwidersprüchen abgesehen oder eben von ihnen "abstrahiert" wird. Das Aufdecken von Interessen ist somit eine wesentliche Konkretisierung des sonst abstrakt bleibenden - und wie zu meinen ist: sinnvollen, ja notwendigen - Gesellschaftsbezuges von Wissenschaft.

Ideologiekritik

Interessant hieran ist nun, wie dieser abstrakte Gesellschaftsbezug sich heutzutage präsentiert, ja, "hergestellt" wird - und somit (unter anderem) interessengeleitete Wissenschaften produziert. Wie es also kommt, dass die angeblich gebildete und objektive Wissenschaft bzw. deren "menschliches Personal" es heutzutage nicht einmal mehr vermag, sich des gesunden Menschenverstandes zu bedienen und "Lüge" oder "Dummfug" zu rufen oder schreien, wenn Politik und Medien beispielsweise den Argumentationsreigen zu singen beginnen, es sei doch nicht gerecht, dass mensch in Kindertagesstätten Gebühren zahlen müsse, in Hochschulen aber nicht, in beiden solle doch fortan zur Kasse gebeten werden, dies sei dann gerecht. Warum also niemand bzw. kaum jemand mehr - in gesellschaftlicher Verantwortung stehend und "objektiv" - an dieser Stelle darauf aufmerksam macht, dass es schon selten dämlich ist, vermeintlich wissenschaftlich untermauert zu behaupten: Jetzt haben die Kinder die Pest, da holen wir der Fairness halber doch den Erwachsenen auch noch die Cholera ins Haus (4).

Am ehesten ist wohl zu vermuten, dass die aktuelle vorherrschende Form der Ausblendung gesellschaftlicher Interessen dadurch ermöglicht und befördert wird, dass gesellschaftliche Prozesse seitens derer, denen dies ein Vorteil ist, mehr und mehr als interessenentbundene Sachzwänge präsentiert werden:

"Nach der hier zu Grunde liegenden Logik des "Standortes Deutschland" gibt es keine Klassen und Interessen mehr. Die Ersetzung von politischen Kontroversen durch Sachzwang- und Standortlogik und damit die Systematisierung der Abstraktion von gesellschaftlichen Interessen bedeutet, dass die Verhältnisse so, wie sie sind, grundsätzlich sein müssen" (ebd., S. 23), in dem Sinne also naturgegeben und - in ihren Prämissen und für jederman - unabänderlich und -hinterfragbar sind. "Diese Sachzwanglogik hat eine ganz erhebliche Bedeutung für die Bestimmung von Kritik. Kritik setzt nämlich Sachverhalte voraus, die als Handlungen oder deren Resultate aufgefasst werden können. Deswegen kann auch Natur nicht sinnvoll kritisiert werden - wo dies geschieht, geschieht dies in Verkennung dieses Umstandes oder in satirischer Absicht" (ebd., S. 23 f.).

Diesen Umstand, jenen, dass Natur nicht sinnvoll zu kritisieren ist, kann sich zu nutze machen, wer gesellschaftliche Verhältnisse naturalisiert: Unter dieser Voraussetzung nämlich machen sich Kritiker, die angeblich aus der "Natur" der Sache sich ergebende "Sachzwänge" kritisieren, einzig lächerlich.

Eben solche Naturalisierungen, stillschweigende Grundannahmen und verdeckte Interessen also, kurz: angebliche "Naturgesetze", die doch gar keine sind, aufzudecken und zu thematisieren, um die hinter diesen liegenden gesellschaftlichen Handlungsoptionen zu offenbaren, ist Aufgabe und Funktion Kritischer Wissenschaft und der ihr notwendigen Ideologiekritik.

Sie bezieht sich auf ein Denken, "das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat. Es ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Missstände abzustellen [wie es selbsterklärte Aufgabe der traditionellen Theorie ist], diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft. Wenngleich es aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch weder seiner bewussten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, dass irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere. Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat. Während es zum Individuum in der Regel hinzugehört, dass es […] seine Befriedigung und seine Ehre darin findet, die mit seinem Platz in der Gesellschaft verknüpften Aufgaben nach Kräften zu lösen und bei aller energischen Kritik, die etwa im einzelnen angebracht sein sollte, tüchtig das Seine zu tun, ermangelt jenes kritische Verhalten durchaus des Vertrauens in die Richtschnur, die das gesellschaftliche Leben, wie es sich nun einmal vollzieht, jedem an die Hand gibt" (Max Horkheimer).

Kritische Wissenschaft ist daher per se auch Wissenschafts- und Gesellschaftskritik. Oder, um es mit Marx zu sagen: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern".

Resümee

Kritische Wissenschaft, die als solche alles in Frage stellt und zu hinterfragen versucht, ist in diesem Sinne erst tatsächlich "objektive Wissenschaft" - derer im Moment nicht nur die Studierendenproteste, die allzu oft im Standort-Deutschland-Schema verharren, sondern auch die Gesellschaft als ganze, von der auch meine Familie ein Teil ist, dringend bedürfen.

Fußnoten
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(1) "Die Hochschulpolitik der neunziger Jahre basiert auf der Logik der Mediengesellschaft. Nach '89 erklären die Regierenden erstmals das westdeutsche Hochschulwesen zur blühenden Landschaft, in der sich faule Studierende und faule Professoren räkeln. Genauer gesagt, 1990 bis 1993: vier Jahre Propagandafeldzug gegen die faulen Studierenden. 1994 bis 1997: vier Jahre Propagandafeldzug gegen die faulen Professoren" (Wolfgang Essbach). So kam und kommt es denn auch, wie es kommen sollte und beabsichtigt war: Die deutsche Öffentlichkeit hält, wie es es zu tun angehalten ist, die deutschen Hochschulen für Paradiese, in welchen sich Faulenzer sonnen; die Politik hingegen nutzt diese Chance, die absichtlich produzierte Fehlwahrnehmung, aus - und kürzt und kürzt in einem fort, denn: Wo sich Staatsdiener oder Lernende sonnen, da gab und gibt es doch eindeutig zuviel Geld.
(2) Bildung, Gesundheit, Altersversorgung, Sozialleistungen, öffentliche Dienste etc. Siehe hierzu auch die WEED-Studie zu den Folgen von Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen in Europa: Öffentliche Dienstleistungen unter Privatisierungsdruck (PDF-Datei, 709 kB).
(3) Als Beispiel sei hier vielleicht an- und ausgeführt: Uns allen wird tagein, tagaus, ja, unser gesamtes Leben hindurch, immer wieder aufs Neue vermittelt, wir lebten in einer "freien" Gesellschaft, wir seien alle einander "gleich" - und Fleiß zahle sich aus; wer also nur fleißig arbeite, der oder die brächte es schon zu was. Diese "Grundannahme", diesen Grundwert, tragen wir alle mit uns herum - ebenso wie die forschenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dies tun. Läßt mensch es nun hierauf bewenden, ist bereits alles geklärt. Tut mensch dies nicht, führt dies zu Ergebnissen, wie sie beispielsweise Michael Hartmann in seinem Buch "Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft" publiziert hat, welche aber auch die PISA-Studien in der ein oder andern Dimension deutlich gemacht haben: Die gesellschaftliche Position wird in Deutschland fast ausschließlich vererbt. Wer also arme Eltern hat, bleibt sein Leben lang arm, egal, wie "fleißig" er oder sie ist. Und dass Menschen in gesellschaftliche Führungspositionen gelangen, hat eben auch zu allererst mit Habitus, Auftreten und Abstammung, und hiernach erst mit Fleiß und Leistung zu tun.
(4) Was ich an dieser Stelle mindestens ebenso bemerkenswert und daher erwähnenswert finde, ist die Tatsache, dass es den momentanen Gegenaufklärungs-Kampagnen bereits gelungen ist, die ArbeiterInnen in Betrieben und Fabriken selbst und in vermeintlich ihrem Interesse fordern zu lassen, die Gewerkschaften gehörten "an die Leine" oder auch gleich ganz abgeschafft - frei nach der Devise, der Arbeitgeber wüsste doch schon am besten, was die Interessen der ihm Untergebenen sein und vertrete diese daher besser als die eigene Interessenvertretung dies vermag. (Dass die Strukturinteressen von Unternehmen - nicht Unternehmern! - im Kapitalismus hingegen de facto bedingungslose Gewinnmaximierung und Kostenreduzierung, sprich hemmungslose Ausbeutung sind, dies Wissen scheint hier vollends abhanden gekommen zu sein.) Auch ist beachtlich, dass auf das politische Argument, an den Hochschulen studierten ja fast ausschließlich die Kinder der Reichen, die Bürgerinnen und Bürger zuhauf mit einem "Dann sollen sie auch zahlen!" reagierten und reagieren, anstatt sich dafür einzusetzen, dass dieses bisherige Finanzeliten-Privileg gefälligst auch auf ihre Kinder übergeht.

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