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Arbeit und Leben,
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Das Prekariat

von Gert Flegelskamp

Es ist soweit, des Dramas 2. Teil hat begonnen, erneut eingeläutet von einem SPD-Vorsitzenden, der es diesmal allerdings nicht bis zur Kanzlerschaft gebracht hat. In regelmäßigen Intervallen werden von der Politik Stigmatisierungskampagnen gestartet, diesmal in Form einer Unterschichts-Debatte, angestoßen von dem Parteivorsitzenden der SPD, Kurt Beck und freudig übernommen von den übrigen Parteien und der Presse. Eingeleitet wurde diese System bereits vor vielen Jahren, als die Politik erkannte, dass sie für ihr Versagen Schuldige benennen musste. Wie bei Politikern üblich, sind natürlich andere schuld, niemals die Politik. Also begann man, Arbeitslose zu stigmatisieren.

Die erste dieser „Faulheits“-Debatten wurde 1975 unter dem Stichwort „Wildwüchse beschneiden“ ausgelöst. Natürlich war es die SPD, der Arbeitsminister Walter Arendt, der sich mit diesen Worten von seiner Verantwortung freisprach. 1981 machte der Bundestagsabgeordnete Erich Riedl (CDU/CSU) mit dem Vorwurf weiter, "das soziale Netz sei für viele „eine Sänfte geworden, in der man sich von den Steuern und Sozialabgaben zahlenden Bürgern unseres Landes von Demonstration zu Demonstration und dann zum Schluss zur Erholung nach Mallorca tragen lasse“. Kanzler Kohl meinte 1993 „Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, dass wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren"

Kanzler Schröder wollte es aber nicht auf sich beruhen lassen, dass nun die CDU/CSU bei der Stigmatisierung einen Vorsprung hatte und erkannte im April 2001: „Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft“. Damit wurde eine wahre Flut von diffamierenden Äußerungen quer durch die Politikerriege und die Presse ausgelöst. Faulenzer, Sozialschmarotzer, Schwarzarbeiter, Sozialbetrüger, nichts war der Politik zu schmutzig, es den Arbeitslosen anzuhängen und genüsslich verbreitete die Presse diese Verbalfäkalien.

Erneut riss ein Parteivorsitzender der SPD die Initiative an sich und prägte den Begriff der steigenden Unterschicht. Nein, natürlich meinte er das nicht negativ, seiner Meinung nach haben zu viele resigniert, keinen Aufstiegswillen mehr und sich bereits in der zweiten oder dritten Generation in der Sozialhilfe eingerichtet. Aber dann müssen natürlich weitere Begriffe her, mit denen man die Unterschicht beschreiben kann. Der Begriff Proletariat, wie er in vergangenen Zeiten benutzt wurde, erschien nicht mehr geeignet, schließlich hatte sich daraus die Arbeiterbewegung und, welch ein Treppenwitz, auch die ursprüngliche SPD gebildet. die den Klassenkampf des Proletariats gegen das Bürgertum und die herrschende Klasse propagierte. An diese Zeiten soll möglichst nicht erinnert werden und das Lateinische bietet ja mannigfaltige Möglichkeiten. Man entschied sich für den Begriff "Prekariat". Das bietet Interpretationsmöglichkeiten, so als Ableitung von prekär, also misslich und angespannt, ebenso von Prekarium, was soviel wie ein widerrufbares, auf Bitten eingeräumtes Recht bedeutet, also einen Rechtsanspruch ausschließt.

Natürlich ist die ganze Politikerkaste bestürzt, dass sich in diesem Land eine Unterschicht gebildet hat. Die der SPD nahen Hans Böckler Stiftung spricht von 8 % der Bürger, die inzwischen zum "Prekariat" gehören. Beck spricht von beitragsfreien Kindergärten und einem Ausbau von Ganztagsschulen organisieren, um Kindern der Unterschicht den Aufstieg zu ermöglichen.

Wie mich dieses Geschwafel der Politik ankotzt. Seit mindestens zwei Jahrzehnten wird von fehlenden Kindergartenplätzen geschwafelt, ohne dass sich bisher etwas getan hätte. Man diagnostiziert eine zunehmende Bildungsschwäche der Gesellschaft und kündigt Lehrern und verkauft Schulen. Kauder (CDU) setzt sich für konkrete Hilfen für Kinder, Jugendliche und Arbeitslose ein, kann man in der Süddeutschen lesen. Diese Hilfen konkretisiert ja gerade das Arbeitspapier der CDU-"Expertenkommission", in welchem Leistungskürzungen und weiterer Druck auf Arbeitslose durchgängig gefordert wird. Der Wirtschaftspolitische Sprecher der CDU/CSU und Experte für Gehaltsempfang ohne Leistung, Laurenz Meyer konkretisiert die Hilfen für Kinder und Jugendliche, wenn er die Kürzung der Kinderpauschalen für Arbeitslose empfiehlt, denn damit würden die Arbeitslosen ermuntert, auch eine Arbeit anzunehmen. Nur welche, dies Antwort bleibt er schuldig. Dass die anstehende Erhöhung der MWST. auf 19 % ebenfalls eine faktische Kürzung der Transferleistungen ist, bleibt völlig unbeachtet. Ebenfalls ohne Konsequenzen und ohne große Resonanz bleibt die permanente Verschwendung von Steuergeldern, die der Bund der Steuerzahler auch in diesem Jahr wieder mit ca. 30 Mrd. beziffert.

Die Art der Debatte lässt deutlich erkennen, dass die Politik mal wieder Schuldige benötigt. Diesmal wird die Schuld nicht direkt an Personen festgemacht. sondern indirekt. Es ist die fehlende Bildung und fehlende Qualifizierung. Dabei ist die Mehrheit der Arbeitslosen weder faul, noch ungebildet und unqualifiziert. Sie hat es sich auch nicht in einer sozialen Hängematte bequem gemacht, denn die soziale Hängematte in diesem Land wird inzwischen nach dem Vorbild indischer Fakire wie ein Nagelbrett ausgestaltet. Ja, es gibt Arbeitslose, die keine Lust zur Arbeit haben. Sollte das jedoch in Prozenten ausgedrückt werden, ist der prozentuale Anteil korrupter und unfähiger Politiker aus meiner Sicht größer, als der Anteil arbeitsunwilliger ALG II-Empfänger. Die Debatte über die Nebentätigkeiten von Politikern zeigt deutlich, dass eine steigende Zahl von Politikern in Wahrheit Wirtschaftslobbyisten sind. Für diese Annahme sprechen auch die von den Parteien empfangenen Spenden der Industrie:

So bekam die CSU mit 330 000 € nicht das erste Mal eine beachtliche Summe vom Verband der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie (VBM). Bereits im letzen Jahr verbuchte die CSU Zuwendungen des VBM in Höhe von 360 000 € (April 2005) und 400 000€ (Juli 05). Weitere Großspenden der letzten Monate:

  1. 150 000 € von E.ON AG an die SPD
  2. 100 000 € von E.ON AG an die CDU
  3. 200 000 € von der Deutsche Bank an die CDU

Die Entlassungsorgien der Konzerne, die als Folge der politischen Unterhöhlung des Binnenmarktes erfolgenden Pleiten kleiner und mittlerer Unternehmen und die Privatisierungswelle des Staates sind die Ursache für die Arbeitslosigkeit. Die solchermaßen freigesetzten Arbeitnehmer bilden einen Querschnitt durch alle Berufssparten, vom einfachen Arbeiter bis zum Intellektuellen, der zuvor mit Führungsaufgaben betraut war. Hat einer der Entlassenen die 40 bis 45 überschritten, ist es fast aussichtslos, noch einen adäquaten Job zu bekommen.

Mehr als 75 % der Geringverdiener in Deutschland haben lt. Focus eine abgeschlossene Berufsausbildung oder sogar einen akademischen Abschluss. Ähnliches berichte auch der Kölner Stadtanzeiger. Das ganze Gerede von der Masse der Unqualifizierten ist also nichts als leeres Geschwätz, um vom eigenen Versagen abzulenken, sofern es Versagen und nicht Absicht ist. Mir erscheint Absicht wahrscheinlicher, denn die seit Jahren praktizierte Politik ist von der Logik her derart primitiv und fehlerbehaftet, dass nur entweder die beabsichtigte Zerschlagung der von der Bevölkerung erarbeiteten Werte zugunsten der reinen wirtschaftlichen Profitmaximierung oder ein Zustand ständiger geistiger Umnachtung als Ursache angesehen werden kann.

Unverständlich für mich bleibt, warum diese Parteien nicht längst abgestraft wurden und warum die Menschen ihr Kaufverhalten nicht so organisieren, dass Konzerne wie Siemens, Allianz, VW, DaimlerChrysler und etliche andere dort gepackt werden, wo es den Aktionären dieser Konzerne weh tut, am Geld.

Sollte ich die Situation heute beschreiben, würde ich nicht von Unterschicht oder Prekarisierung sprechen. Ich würde nach dem Roman von H. G. Wells "The Time Machine" von zwei Gruppen Spezies auf diesem Planeten sprechen, den Eloy und den Morlocks. Nur mit dem Unterschied, dass bei uns die Morlocks nicht unter der Erde hausen, sondern in Palästen wohnen.

 

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